Donnerstag, 16. Mai 2013

„Die Ratten“ im Staatsschauspiel

Überzeugende Gerhart-Hauptmann-Premiere vom 10. Mai 2013

Bericht
von © Reinhard Heinrich

Stück und Zeit

Für eine Komödie ist es tragisch genug - und für eine Tragödie recht komisch. So wird es Gerhart Hauptmann auch gemeint haben, als er 1911 seine „Berliner Tragikomödie“ dem leicht irritierten Theaterpublikum vorstellte. Hauptmanns „zwei Welten“ wurden damals vom Zuschauer kaum wahrgenommen, so lange er sich voll seiner eigenen zugehörig fühlen konnte. Dass ein Mensch „aus besseren Kreisen“ jedenfalls für weniger gut galt, als einer aus „guter Gesellschaft“, war noch kein Grund zum Nachdenken. In den Köpfen der Leute war das Kaiserreich praktisch für „ewig“ konzipiert. Gerhart Hauptmann zeigt mit seinem Stück, wo es vor 1911 schon sichtbar bröckelte.
In dieser Aufführung wird allerdings niemandem etwas geschenkt. Nicht dem Zuschauer, nicht den Darstellern und erst recht nicht Gerhart Hauptmann. „Viel geehrt und ausgiebig“ (s. „Die Teppichweber von Kujan Bulak“, B. Brecht 1927) wurde G. Hauptmann im Kaiserreich, in den Republiken und auch eine 1941 erschienene „Geschichte der Deutschen Literatur würdigt sein Werk (10 Stellen im Register).
Was der Autor uns zu geben hat, das gibt er: eine Abbildung von den Verhältnissen vor den „herrlichen Zeiten“, denen Wilhelm Zwo sein Volk „entgegen führen“ zu wollen erklärt hatte (s. „Realienbuch“ v. 1912). Ob nun unter Wilhelms Regiment, ob unter Kohls „keinem wird es schlechter gehen“-Kabinett oder Merkels „bester Regierung seit 1990“ - so viel hat sich anscheinend nicht geändert. Mittels aktueller Kinderleichen „mit sozialem Hintergrund“ bringen uns diverse Illustrierte auch heute zum wohligen Schaudern mit einem Schuss (selbst-)gerechter Empörung. Und genau wie bisweilen William Shakespeare wusste auch Gerhart Hauptmann hier keine andere Auflösung für den letzten Akt, als ein „geschmackvolles Blutbad“ (Mark Twain). Und wir wissen es - unveränderliche Verhältnisse vorausgesetzt - auch nicht besser.

Das Stück auf der Bühne
Thomas Eisen, Rosa Enskat, Albrecht Goette,
Annika Schilling, Jan Maak, Sascha Göpel,
Jonas Friedrich Leonhardi
Foto: Matthias Horn

Das rund hundert Jahre alte Drama einmal wieder auf die Bühne zu bringen, damit wir vielleicht noch mal darüber nachdenken, ist das Verdienst des Dresdener Staatsschauspiels. Nun wird die Entscheidung für Hauptmanns Tragikomödie nicht so furchtbar schwierig gewesen sein. Schliesslich sichert der Autor in Dresden nicht zum ersten Mal volle Säle - sowie gelegentlich auch den zuverlässigen Argwohn selbsternannter Deutungshoheiten in Presse, Funk und Fernsehen - so, wie er hier gern aufgeführt wird.
Die Berliner Mietskaserne, in der das Drama sich abspielt, ist im Bühnenbild (Aurel Lenfert) im Wesentlichen auf einen der „breiten Corridore“ (s. Hauptmanns Entwurf von 1909) beschränkt. Und diese „Beschränkung“ dehnt den „Corridor“ geradzu gespenstisch auf die volle Bühnenbreite und seine Tiefe wird als Projektion nahezu unendlich gezeigt. Eine Wohn-Hölle, von der Heinrich Zille treffend sagte, dass man allein mit ihr schon einen Menschen erschlagen  kann, wie mit einer Axt.

Menschen im Stück

Aber selbst da gibt es noch die Idylle im Dreck, das kleine Glück auf  Kosten der noch Unglücklicheren. Der Maurerpolier John mit seinem gesicherten Einkommen ist eindeutig „Oberschicht“ in dieser Hause - und führt sich auch so auf. Man traut ihm leicht zu, dass er als Arbeiter 1903 klassenbewusst die Sozialdemokraten wählt und 1914 doch mit „Disssiplin“ (Tucholsky) den Fahnen seines Kaisers gegen den Erbfeind folgen wird. Autoritäten und Hierarchien stecken eben so drin. Das mit 1914 konnte selbst Hauptmann beim Schreiben noch nicht so genau wissen. Sein Darsteller Thomas Eisen weiss, dass wir es wissen - und spielt es unterschwellig mit. Dafür sei ihm Dank gesagt.
Dem Dienstmädchen Pauline wird ihr noch ungeborenes Kind abgeschwatzt von der durch den Tod des eigenen Kindes traumatisierten Frau Jette John. Diesen Weg von der armen, unglücklichen Frau über grassierenden Realitätsverlust bis zum Ende als vielfache Mörderin spielt absolut überzeugend Rosa Enskat. Besonders in ihren verzweifelten Rechtfertigungstiraden glänzt sie mit ihrer „Berliner Schnauze“ - die man erst einmal können muss.
Eben so viel Bewunderung für stimmlichen Einsatz verdient, als Darstellerin des schlesischen Dienstmädchens Pauline, die vielseitig ausgebildete Marie Smolka. Besser hätte man sie kaum besetzen können. Auch ohne Kenntnis ihres Lebenslaufes erkennt der aufmerksame Hörer in ihr die Opernsängerin - und die gebürtige Tschechin. Legal angestelltes Personal aus Ländern "vom Rande der EU“, wie wir heute sagen würden. Sozial voll „integriert“ - als unterster Fussabtreter im Berliner „Milljö“ zwischen Rummelsburg und Mulak-Ritze. Nicht einmal ihre eigene, mehr zufällige, Ermordung scheint sie (und die meisten Leute ringsum) so recht zu überraschen.
Mit viel lebendiger Herzenswärme gespielt wird die halbwüchsige Selma, Tochter der Frau Knobbe von gegenüber, von Lea Ruckpaul (Noch-Studentin, ab nächste Spielzeit Ensemblemitglied). Sie bäumt sich noch auf, will noch ein menschlicher Mensch werden unter all dem Abschaum. Sie sucht - und findet - noch moralische Gründe für ihr Handeln - oder Nicht-Handeln. Schandtaten „für eine gute Sache“ sind ihr geläufig, aber irgendwo hört die Freundschaft zur moralisch entgleisten Nachbarin dann doch auf. Sie bringt die Bombe zum Platzen, wie das Kind in „Kaisers neue Kleider“, indem sie einfach „sagt, was ist,“. Eine „revolutionäre Tat“, wie schon Ferdinand Lassalle (überliefert durch Rosa Luxemburg) bemerkte. Wie viel diesem Kind abverlangt wird, wie es unter diesen Verhältnissen leidet, in die es schon glaubt, sich eingefügt zu haben, das zeigt Lea Ruckpaul ergreifend schlicht und sie erfüllt zeitweise damit die Bühne wie kaum jemand sonst.
Selmas Mutter in ihrer geradezu gesetzmässigen Verkommenheit erschliesst das souveräne Spiel von Antje Trautmann vor allem in ihrem ersten Auftritt: Ein geradezu gravitätischer „Gang“ - dieses Schlurfen zum Ausguss, gefolgt vom Auskippen einer ekelig braunen Brühe. Das wäre auch ohne Wiederholung unvergesslich fürs Publikum - schadet aber auch nicht. Die volle Bühnenbreite ist gerade weit genug für diese an sich niedere Verrichtung. Ein herzliches 'Chapeau!' der Dramaturgie (Beret Evensen) dafür (wenn’s kein Regie-Einfall war)!
Die sonnigen Augenblicke (nicht zwingend komisch, aber oft) beschert uns eine gut-bürgerliche Schicht, die im Hause selbst nicht wohnen muss, sondern nur ihren Krempel da aufbewahrt. Dieser Krempel (ein Theaterfundus) nährt Hoffnung auf „bessere Zeiten“ bei der ganzen Familie des gewesenen Theaterdirektors Hassenreuter. Man muss an den „Principal Striese“ („Raub der Sabinierinnen“) denken - und wird von Albrecht Goette nicht enttäuscht. Die Höhen der edleren Theaterkunst verliert er auch nicht aus den Augen, als er knietief in Ungewissheit watet. Edelmut im Sinne Friedrich Schillers treibt ihn auch, wenn er sich mitsamt Familie bei der Darreichung eines bereits praktisch bewährten Milch-Kochapparates an seine Angestellte, die vermeintliche Mutter John, vor uns lächerlich macht. „Gartenlaube“ vom feinsten - und würdig zelebriert!
Und folgerichtig konterkariert vom neuen Schauspielschüler Spitta (Thomas Braungart), der gerade vom Studium der Theologie desertiert ist - und auch noch geheimer Liebhaber des anmutigen Principals-Töchterleins Walburga (Annika Schilling). Das „junge Glück“ ist nicht wirklich zuhause in dieser Mietskaserne, tobt sich dort aber ordentlich aus mit allem, was Königskinder so tun, die anderswo nicht glauben, zusammen kommen zu können. Hier können sie’s und wir schauen vergnügt dabei zu. Deutlicher kann man „Sturm und Drang um 1900“ wohl nicht zeigen, während die herrschende Elterngeneration sich doch mehr am alternden Goethe orientiert - beruflich wie privat.
Ganz besonders „alternd-veraltet“ aber mit absolutem moralischen Anspruch auch der Pastor-Vater (Hans-Jörn Weber) des Theologie-Deserteurs. Das kennen wir aus Fontanes „Effis Briest“ wie auch aus Heinrich Manns „Untertan“: Dass solche Klischee-Typen wirklich gelebt haben, müssen wir demnach Gerhart Hauptmann einfach glauben. Diese Karrikatur heute noch völlig glaubwürdig zu spielen, bräuchte vermutlich mehr Text. Damals kannte man solche Typen einfach vom Sehen und niemand musste sie erklären. Vielleicht ist an der Rolle 2013 doch noch etwas zu feilen. Oder der Pastor bleibt einfach Teil der sozialen Kulisse, vor der das Stück spielt. Regiesache (Susanne Lietzow), an der sonst kaum etwas auszusetzen ist. Die Auftritte sitzen perfekt, einige Abgänge könnten plausibler sein, aber auf die kommt es weniger an. Vielleicht wäre da aber auch am Licht (Andreas Barkleit) noch etwas (ab-) zu drehen.
Welch Glück, dass Frau Therese Hassenreuther (sehr präzise: Christine Hoppe) als Welt- (Theater-)erfahrene Mutter der unzüchtigen Tochter bereit ist, die Gönnerin des Jungen Glücks zu „geben“. Unnachahmlich auch ihre blauäugig-leutselige Grandezza gegenüber der Angestellten ihres Gemahls! Die Hoppe gibt eine Grande Dame, der ein lästiger Sprachfehler wohl die ganz grosse Bühnenlaufbahn versagt hat, mit einer komischen Würde, die man immer noch als Lichtblick unter den dunklen Wendungen im Leben der grossen unter diesen kleinen Bürgern erlebt.
Ein Augenschmaus vor allem sind die bürgerlichen Schauspielschüler Käferstein (Sascha Göpel) und Dr. Kegel (Jonas Friedrich Leonhardi), die sich in formaler Gestik und hohlem Pathos der vom Chef „klassisch-weimarisch“ genannten Bühnenkunst dressieren lassen. Prachtvoller Klamauk, den wir geniessen können, weil wir diese „Kunst“ zu kritisieren nicht mehr nötig haben. Damals wurde noch Schillers „Lied von der Glocke“ an Volksschulen auswendig gelernt und abgefragt wie ein Katechismus. Es war sicherlich schwer bis unmöglich, einfach so vom Glauben abzufallen. Leonhardi und Göpel spielen es mit Inbrunst. Meisterlich.
Zumal Leonhardi noch den gelegentlich mordenden Kleinkriminellen Bruno, Bruder der Frau John, zu spielen hat. Wie giftig er gegen die moralische Entrüstung seines so unfassbar rechtschaffenen Schwagers aufbegehrt - das haben wir alle schon mal irgendwo erlebt und kaufen es ihm gern ab.
Zur „sozialen Kulisse“ sind sicherlich auch die Schauspielerin Alice (Cathleen Baumann) und der Hausmeister Quaquaro (Jan Maak) zu rechnen. Wenn es um noch mehr Verruchtheit gegangen wäre, hätte C. Baumann das sicherlich locker gekonnt und den Berliner Hausmeister als Menschenfeind schlechthin haben wir auch schon oft gesehen - und wenn’s bei Vater Zille ist.
Alles in allem eine reife Ensembleleistung, die es in sich hat. Dazu tragen nicht wenig auch die Kostüme (Marie Luise Lichtenthal) bei, besonders, wenn sie karrikierend selbstironisch eingesetzt werden. Der Fundus des Herrn Principal entwickelt da sogar ein doppelbödiges „Eigenleben“. Schön zu sehen, wie das Theater sich selbst auf den Arm nimmt.
Von der Musik dieser Aufführung konnte Gerhart Hauptmann noch nichts wissen. Sie wurde erst von Gilbert Handler sehr passend zu Marie Smolkas Gesang komponiert - und wenn die übrigen Darsteller auch so gut sängen, hätte er vielleicht eine Oper daraus machen können. Georg Trakls Texte habe ich noch nie auf Tschechisch gesungen gehört - aber ich würde es mir wieder vorstellen können. Určitě - wie man in Böhmen so sagt.

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